Sterbehilfe auf Bestellung: Warum ging es bei Luise L. so schnell? - Sohn sucht nach Antworten
Luise L. hat sich einen Sterbehelfer nach Hause bestellt. Nach ihrem Tod stellt sich ihr Sohn viele Fragen. Die Geschichte eines Falls, den es in Deutschland immer häufiger gibt.Ostercappeln (KNA) Christian L. ringt am Telefon um Worte. Seine Mutter hat sich vor wenigen Tagen das Leben genommen. Ihr assistierter Suizid traf ihn unvorbereitet. "Ich habe diesen Tag irgendwann in ferner Zukunft erwartet", sagt er. Denn Luise L. hatte keine lebensbedrohliche Krankheit. Warum wollte sie trotzdem sterben? Und warum ging alles so schnell?
Obwohl sie seit drei Jahren erblindet war, hielt Luise L. ihren um 5 Uhr morgens beginnenden Tagesablauf weiter ein. Sie nahm ihre Mahlzeiten ein, empfing Besucher, ließ sich aus der Zeitung vorlesen und beantwortete Telefonanrufe. Sie hat sich für das interessiert, was in ihrem Umfeld geschah. Ihre Ankündigung des Sterbetermins kam daher unerwartet. "Das gibt es doch nicht, jedenfalls nicht bei uns in der Familie", dachte der Sohn. Einen Monat später war seine Mutter tot.
Aufgewachsen ist Christian L. mit zwei Geschwistern in Ostercappeln (Niedersachsen) - in dem Haus, in dem sich die 84-Jährige im September tödliches Gift injizieren ließ. Luise L. hatte elf Geschwister. Ihr Familienkreis war entsprechend groß, das Leben im Ort tief verwurzelt. Sie traf Familie und Nachbarn, besuchte die katholischen Gottesdienste. "Der Sterbewunsch passte eigentlich nicht zu ihr", sagt Christian L.
Für ihn war Beihilfe zur Selbsttötung bisher etwas, das sich nur reiche Menschen leisten, die dafür in die Schweiz fahren. Aber seit 2020 nehmen die Zahlen auch in Deutschland zu. Denn das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe aufgehoben - "indem es unter anderem feststellte, dass jeder Kranke oder auch Gesunde das Recht auf eine Suizidassistenz hat", erklärt der Palliativmediziner Winfried Hardinghaus.
Hospizverband warnte vor Dammbruch
Hardinghaus war viele Jahre lang Chefarzt im Krankenhaus von Ostercappeln. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes. Der Verband warnte nach dem Karlsruher Urteil vor einem Dammbruch zur aktiven Sterbehilfe. Aber der Bundestag konnte sich 2023 nicht auf eine gesetzliche Regelung der Beihilfe zur Selbsttötung einigen. Daher gibt es weiterhin eine rechtliche Grauzone mit vielen Lücken.
Kritiker monieren zum Beispiel, dass Suizidassistenz auch bei Kindern nicht strafbar ist. Vieles sei nicht klar geregelt: Wie wird die Freiwilligkeit festgestellt? Wie viel und wozu wird vorab beraten? Welche Fristen sollen gelten?
Ein ganzheitliches und gut ausgebautes Angebot der Hospizarbeit und Palliativversorgung sieht Hardinghaus als Gegenpol zur Sterbehilfe. Nötig sei zudem eine gesicherte Finanzierung von niedrigschwelligen Angeboten zur Suizidprävention, auch an Schulen.
Großes Dunkelfeld bei Suiziden
Mehr als 10.000 Suizide gab es 2023 in Deutschland. Darunter rund 900, bei denen Menschen die Hilfe von Sterbehelfern in Anspruch genommen haben. Diese Zahlen stammen von den drei Sterbehilfe-Organisationen, die in Deutschland aktiv sind. Experten gehen von einem großen Dunkelfeld aus.
Vom Sterbewunsch seiner Mutter hat Christian L. fünf Wochen vor dem Termin für den assistierten Suizid erfahren. Zu diesem Zeitpunkt stand das Datum schon fest. Luise L. hatte es mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) vereinbart. Wie er von Verwandten erzählt bekam, hatte sie dem Sterbehilfe-Verein knapp drei Wochen zuvor in einem Brief ihren Wunsch nach einer Freitodbegleitung mitgeteilt und in weniger als einer Woche die Zusage erhalten.
Tod wegen Angst vor Demenz?
Demnach war ihr Sehverlust der Hauptgrund für ihren Sterbewunsch. Aber ihm habe sie auch gesagt, dass sie diesen Schritt vorsorglich schon jetzt gehen wolle, erzählt der 57-Jährige. Sie habe Angst gehabt, dass sie in einigen Jahren unter Demenz leiden und dann nicht mehr dazu in der Lage sein könnte.
Christian L. wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in Kirchseeon bei München. Besuche in Ostercappeln waren daher nicht spontan möglich, doch telefonierte er häufig mit seiner Mutter. Eigentlich seien diese Gespräche immer vertrauensvoll und harmonisch gewesen, sagt er. Nur über ihren Sterbewunsch ließ sie nicht mit sich reden.
Christian L. schrieb einen emotionalen Brief an den Arzt seiner Mutter, den sie über ihren Sterbeplan noch nicht informiert hatte. Außerdem wandte er sich schriftlich an die DGHS und erreichte eine zusätzliche Überprüfung des Sterbewunsches. Der von ihm ebenfalls eingeschaltete sozialpsychiatrische Dienst organisierte einen Hausbesuch durch einen Psychotherapeuten. Das Ergebnis blieb aber dasselbe: Es konnte keine psychische Krankheit festgestellt werden; der Sterbewunsch sei freiwillig.
Keine Untersuchung notwendig
Ein eineinhalbseitiges Schreiben des Experten hält den Eindruck fest, den er aus dem Gespräch gewonnen hat. Dieses sei weder ein Gutachten noch eine psychiatrische Untersuchung gewesen, so Christian L. Das Schreiben habe der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben jedoch ausgereicht - was er nicht nachvollziehen kann.
Es gebe "keine festgeschriebenen Sicherheitsmechanismen", bemängelt auch Professor Hardinghaus. Der assistierte Suizid unterliege "kaum überprüfbaren unterschiedlichen (vereins-)internen Regularien und Sicherheitsstandards und personenabhängigen Einschätzungen".
Demnach ist jeder Sterbehilfe-Verein frei, eigene Regeln zu erstellen. Nach den Vorgaben der DGHS muss eine sterbewillige Person mindestens für ein halbes Jahr Mitglied gewesen sein, bevor ein Sterbetermin zustande kommen kann. Zwischen Terminvergabe und Sterbedatum muss mindestens ein Monat liegen. Den freiwilligen Sterbewunsch sollen ein Brief des Sterbewilligen und ein Gespräch mit einem Arzt oder einem Psychologen aufzeigen.
Assistierter Suizid zu Hause und mit Angehörigen
"Die von der DGHS vermittelten Freitodbegleiter beziehen die Angehörigen mit ein", erklärt die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben. Es sei denn, der Sterbewillige wolle das ausdrücklich nicht. Angehörige nehmen demnach häufig am Juristen- oder Arztgespräch teil - in der Wohnung des Sterbewilligen. Viele Angehörige würden auch das Sterben zu Hause begleiten. Dies war auch in der Familie von Luise L. der Fall.
Christian L. wollte nicht dabei sein, hat sich aber die letzten Stunden seiner Mutter von anderen Familienmitgliedern schildern lassen: Ein Arzt und eine Rechtsanwältin kamen zu Luise L. und ihrem Ehemann nach Hause. Im Schlafzimmer wurde die Infusion aufgestellt, der Arzt legte die Kanüle in den Arm der 84-Jährigen. Sie selbst musste dann nur noch an einem Rädchen drehen, damit das Gift in die Adern floss. Das Mittel ließ Luise L. sofort einschlafen, kurz darauf starb sie an Atem- und Herzstillstand.
Keine letzten Worte
Christian L. ist erschüttert, wie schnell alles ging von der Äußerung des Sterbewunsches bis zum Tod. Es fällt ihm schwer, das Geschehene zu verarbeiten. Er blättert jetzt in alten Fotos seiner Mutter oder geht zu einem Wegkreuz in Kirchseeon, um Antworten zu finden: Warum hat sie sich nicht anders helfen lassen? Warum hat sie keine weiteren Vorbereitungen getroffen? Warum gab es keine Abschiedszeremonie mit allen Angehörigen, keinen Abschiedsbrief, keine letzten Worte, mit denen sie ihm noch etwas erklären und mit auf den Weg hätte geben können? Was hat die Familie versäumt? "Diese Fragen werden mich für den Rest meines Lebens beschäftigen."